Sonntag, 5. September 2010
Der Volksmuezzin und seine Thesen
Endlich ist der Sommer vorbei und mit ihm das dazugehörige Loch. Endlich gibt es wieder wichtige Dinge zu diskutieren. Da wären zum Beispiel die AKW Laufzeiten oder die scheinbar gelöste Kapitänsfrage beim DFB. Aber nein, was muss man jetzt jeden Tag hören, sehen und lesen (also auch hier): Thilo Sarrazin!
Der hat ja klammheimlich ein Buch verfasst, in dem er wilde Thesen über die zukünftige Entwicklung der Migration in Deutschland und deren Auswirkungen kundtut. Und die Geschichte mit den Judengenen. Und dass Deutschland in 20 Jahren zu 80% muslimisch ist. Hab ich zumindest gehört, dass das in dem Buch drinsteht, gelesen hab ichs nicht. Aber da stehe ich wahrscheinlich ziemlich allein auf weiter Flur, wenn man sich mal anguckt, wer nicht alles sein Gesicht vor möglichst viele Kameras hält und ausschweifend darüber schwadroniert, warum Herr Sarrazin denn jetzt der Teufel in Menschengestalt ist.

Fakt ist wohl, dass in dem Buch tatsächlich Dinge stehen, deren Argumentation einzig und allein den Gehirnwindungen Herrn Sarrazins (und seiner Mitautoren?) entsprungen sind und gleichzeitig als wissenschaftliche Tatsachen bezeichnet werden. Das kommt daher, dass wirkliche wissenschaftliche Studien uminterpretiert und zum eigenen Zweck neu ausgelegt werden. Somit fällt es dem geneigten Leser natürlich viel leichter, das gelesene für bare Münze zu nehmen.
Dies scheint auch wunderbar zu funktionieren, wie eine Umfrage der Bild am Sonntag aktuell zeigt, laut der angeblich 18% aller Deutschen eine Thilo Sarrazin Partei wählen würden. Die Aussagekraft sei allerdings erst einmal so in den Raum gestellt, stammt diese Umfrage doch 1. aus der BILD (wenn auch ein Umfrageunternehmen beauftragt wurde) und 2. ist es eher fraglich, wie viele Menschen, die in einer Umfrage eine solche Antwort geben auch bei einer tatsächlichen Wahl so entscheiden würden.
Was diese Zahl aber nichtsdestotrotz zeigt, ist die scheinbar latente Auffassung in einem nicht unerheblichen Teil der deutschen Bevölkerung, dass wir zu viele (nicht integrierte) Ausländer/Muslime in unserem Land haben und dass radikal etwas dagegen unternommen werden muss (das ist zumindest der Tenor, den ich aus der bisherigen Diskussion mitgenommen habe). Mich würde mal interessieren, was unsere Freunde von der NPD, Pro NRW und wie sie alle heißen dazu zu sagen haben. Ach, das weiß ich ja sogar: http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,715089,00.html
Trotzdem setzen viele Menschen bei Sarrazins Thesen an und denken: „Irgendwie hat er ja recht. Und endlich spricht es mal einer aus.“ Doch das ist leider ist das Problem, denn was der werte Herr Volksmuezzin da vorbetet entspricht eben nicht der Realität. Das bedeutet natürlich nicht, dass eitel Sonnenschein auf dem Gebiet der Integration herrscht, doch die (mutmaßlich!) von Herrn Sarrazin beschriebenen Zustände existieren de facto so nicht und werden mit großer Wahrscheinlichkeit auch so nicht eintreten.
„Aber ich seh es doch jeden Tag auf der Straße, dass der Mann recht hat!“ würde ich jetzt wahrscheinlich von vielen Menschen zu hören bekommen. Das ist leider die Krux an der ganzen Sache. Natürlich haben wir ein Problem mit einer großen Gruppe der in Deutschland lebenden Migranten. Das bezweifelt auch niemand, aber das Ausmaß und die Auswirkungen dieses Problems sind meines Erachtens weitaus weniger dramatisch, als es Thilo Sarrazin beschreibt.
Das Problem besteht glaube ich größtenteils darin, dass jeder entweder schon selbst schlechte Erfahrungen mit Ausländern gemacht oder zumindest von anderen davon gehört hat. Diese Eindrücke haben sich eingeprägt und bewusst oder unbewusst Vorurteile gegenüber diesem Personenkreis gebildet. Davon will ich mich in keinster Weise freisprechen. Wenn ich durch die Stadt gehe und sehe die türkischen Mütter mit ihren Kopftüchern und langen Kleidern oder eine Gruppe junger Türken, die mit stolz geschwellter Brust durch die Gegend flanieren, gehen mir wahrscheinlich dieselben Gedanken durch den Kopf, wie bei jedem anderen auch. Der Unterschied ist, dass man diese Gedanken aber auch reflektieren sollte. Sind denn wirklich alle so oder machen diese Leute nur einen kleineren (dafür gut sichtbaren) Teil des Ganzen aus? Was ebenfalls in die Meinungsbildung mit einfließt, ist das Prinzip, dass sich positive Eindrücke viel weniger stark einprägen, als negative. Sehen wir also eine fließend deutsch sprechende Türkin, einen in die Arbeitswelt integrierten Türken oder sonst etwas „normales“, wird dies unser Gesamtbild wahrscheinlich nur wenig bis gar nicht verändern, hören wir aber, dass ein türkischer Vater seine Tochter nicht zum Schwimmunterricht gelassen hat, dann wird unser Vorurteil wieder bestärkt.
Schlussendlich kann man sagen, dass die ganze Diskussion auch etwas Positives hat, nämlich dass sich jetzt anscheinend wieder etwas ernster mit dem Thema Integration auseinandergesetzt wird. Dies schien mir bisher nämlich viel zu oft eine pro forma Angelegenheit gewesen zu sein. Damit die ganze Sache aber auch Erfolg hat, darf man sich nicht darauf verlassen, dass andere etwas tun. Es fängt schon damit an, dass ich versuche nicht mehr nur das Schlechte zu sehen und zu denken „Guck mal die da!“ (Und da packe ich mir auch an die eigene Nase) Wenn man der anderen Seite auch mal eine Chance gibt, wer weiß, was dabei herauskommt…

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